Gemeinschaftsgärten florieren

Mit Gummistiefeln an den Füßen und der Gießkanne in der Hand steht Moritz Bellers im Gewächshaus. Höchste Zeit, dass die Erde Wasser kriegt. Der 34-jährige Landschaftsarchitekt ist einer der Initiatoren des Stadtackers auf dem Gelände der Wagenhallen – einer von rund zwölf Flächen in Stuttgart, auf denen Urbanes Gärtnern betrieben wird. Etwa 100 Menschen wühlen auf dem Areal mit ihren Händen in der Erde, ziehen Pflanzen und Gemüse, experimentieren. Es gibt Gemeinschaftsfelder, auf denen Kartoffeln, Bohnen und Erdbeeren wachsen. Aber auch private Parzellen, die von Singles oder Familien bewirtschaftet werden.

Der Stadtacker steht stellvertretend für den Trend Urban Gardening, der in Großstädten auf dem Vormarsch ist. Auf Brachflächen mitten in der City legen Bürger Beete an. Die Beweggründe sind unterschiedlich. Die einen suchen die Gemeinschaft oder einen Ausgleich zum Alltag, andere wollen bewusster essen. Wieder andere möchten ihren Kindern zeigen, wie eine Kartoffel aussieht, bevor sie zu Pommes Frites wird. Oder sie haben einfach keinen eigenen Garten.

So verschieden die Motive, so verschieden seien auch die Leute auf dem Stadtacker, erzählt Moritz Bellers, der am Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Uni Stuttgart arbeitet. Der Akademikeranteil dort sei zwar hoch. Trotzdem werkelten nicht nur gesundheitsbewusste Großstadt-Hipster auf dem Wagenhallen-Areal, betont er. Sondern auch die türkische Familie, der italienische Gastarbeiter oder der Arbeitslose.

Homogener sieht es beim Alter aus: Das Gros ist zwischen 20 und 40. In diesen Jahren ziehe man häufiger um und komme bei Projekten wie dem Stadtacker schneller und unkomplizierter zum Gärtnern, als wenn man sich bei den Kleingärtnern auf eine lange Warteliste setzen lasse und eine hohe Pacht bezahle, sagt Bellers. Kein Wunder, dass die Urban-Gardening-Projekte in Stuttgart wie die Pilze aus dem Boden sprießen. Sie stellen einen bunten Mix aus grünen Initiativen dar, die teilweise als Vereine, teilweise aber auch nur als lose Gruppe agieren. Im 3500 Quadratmeter großen Garten El Palito in Degerloch wird beispielsweise gegärtnert und gleichzeitig die Kultur gefördert. Dort finden regelmäßig Konzerte, Veranstaltungen und Informationsabende statt. Auf dem Dach des Züblin-Parkhauses im Herzen der Stadt sorgen 80 Hochbeete für reichlich Grün. Und im Schau- und Bildungsgarten in Stuttgart-Möhringen kann man alles über essbare Wildpflanzen lernen. Bei mehreren Flüchtlingsunterkünften im Stadtgebiet sind ebenfalls Gemeinschaftsgärten entstanden.

Leute zusammenzubringen, die voneinander lernen könnten – das sei ein wichtiges Ziel der City-Gärten, sagt Alexander Schmid. Der 31-Jährige ist bei der Stadt als Koordinator für das Urbane Gärtnern und das kommunale Grünprogramm, bei dem es um Hof-, Dach- und Fassadenbegrünung geht, zuständig. Die Stelle ist bundesweit einzigartig und entstand, nachdem Stuttgarter sie bei der Arbeit am Bürgerhaushalt anregten, worauf der Gemeinderat sie genehmigte. Im Juni 2014 nahm Schmid seinen Job auf. Dieser besteht darin, die Initiativen zu beraten, ihnen ein Netzwerk zu bieten und Hilfe zu leisten, zum Beispiel bei Fragen des Versicherungsschutzes.

Schmid vermittelt den Hobby-Gärtnern zudem zweckgebundene Zuschüsse, die die Stadt beisteuert. In dem Topf, der ihm im Haushalt 2014/15 für das Urbane Gärtnern und das Grünprogramm zur Verfügung gestellt wurde, stecken pro Haushaltsjahr 200000 Euro. Etwa ein halbes Dutzend Förderanträge wurde bislang bewilligt. Weitere Anträge liegen auf Schmids Tisch. Der Bedarf sei da, sagt er. Der Landschaftsarchitekt hofft daher, dass der Gemeinderat die Förderung im Haushalt 2016/17 verlängert. Der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat signalisiert, dass er dafür werben will.

Wie lange es den Stadtacker hinter den Wagenhalle indes noch geben wird, ist unklar. Sicher ist nur: Das Areal ist Millionen wert und soll irgendwann bebaut werden. Dann müssen die Betreiber weichen und werden sich wohl ein neues Gelände suchen. Moritz Bellers sieht die Notwendigkeit und fordert sogar noch mehr Stadtgärten. “Wenn künftig neue Stadtviertel geplant würden, sollten auch immer Areale fürs Urbane Gärtnern vorgesehen werden”, sagt er. Studien zeigten, dass mit der Arbeit auf solchen Grundstücken auch eine Verwurzelung stattfinde. Sie bringe Leben in ein Quartier und fördere das soziale Miteinander. Wer das ignoriere, schaffe erst leblose Schlafstädte und auf Dauer soziale Brennpunkte, sagt Bellers.

Die “South Central Farm”

Ursprünge Urbaner Gartenbau wird im Grunde betrieben, seit es Städte gibt. Nur die Motive und das Image haben sich verändert. Im Nachkriegs-Stuttgart pflanzten die Leute beispielsweise Gemüse an, um sich davon zu ernähren. Auch heute gilt Urban Gardening wieder als zweckmäßig: Die Blockade von Transportwegen während eines Streiks von britischen Lastwagenfahrern und Landwirten im Jahr 2000 und Naturkatastrophen wie der Hurrikan Katrina im Jahr 2005 zeigten, dass es in Großstädten nach drei Tagen zu massiven Versorgungsengpässen kommen kann.

Vorbild Ein bekanntes Beispiel zeitgenössischen urbanen Gartenbaus ist ein Projekt im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien. Die letztlich zwangsweise geräumte “South Central Farm” wurde von lateinamerikanischen Immigranten errichtet, deren verarmter Stadtteil mit Supermärkten unterversorgt war. Sie nutzten eine Brache für den Anbau frischer Lebensmittel und als sozialen Treffpunkt.

 

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